Telematik und der gläserne Autofahrer

Wie der Autofahrer die Kontrolle über seine Daten verliert

[08.07.2016] Ratgeber | sk

Der Prozess ist schleichend. Aus Unkenntnis darüber, welche Unmengen an Daten in einem Auto modernster Technik erhoben, verarbeitet, gespeichert und gegebenenfalls nutzbringend weiterverkauft werden können, geben viele Kraftfahrer Stück für Stück nicht nur Informationen über ihr Fahrverhalten preis. Auch Aspekte wie Aggressionsbereitschaft, -potential und letztlich persönliche, individuelle Eigenschaften werden auf dem Silbertablett serviert, ohne zu ahnen, was da eigentlich über die Ladentheke wandert. Informationen über Eigenschaften und Konsumverhalten eines möglichen Kundenpotentials und -klientel sind in heutiger Zeit zu einem kostbaren Wirtschaftsgut geworden, nach dem sich Industrie und Wirtschaft die Finger lecken.

Der gl?serne Autofahrer
Der gläserne Autofahrer nimmt immer mehr Gestalt an, Foto: Petair

Es kommt nicht von ungefähr, dass ausgerechnet Datenschützer des Bundes und der Länder unter Federführung des Bundesdatenschutzbeauftragten Peter Schaar eine Arbeitsgruppe „Fahrzeugdatenspeicher“ ins Leben gerufen haben, um im Schulterschluss mit dem Verband der Automobilindustrie bessere Aufklärungsarbeit zu leisten. Was es immer noch nicht gibt, soll in Zukunft für jeden zugänglich und ersichtlich sein: Ein Standard-Informationsblatt über die personenbezogene Speicherung von Fahrzeugdaten, die künftig Bestandteil jeder Betriebsanleitung bei Neukauf von Fahrzeugen sein soll. Ein erster Schritt in Richtung Datentransparenz?

Smart Cars und vernetzte Autos

Vor allem jüngere Autofahrer sind für die werbewirksamen Slogans wie „Allzeit auf Empfang“ oder „Zu jeder Zeit erreichbar sein“ besonders empfänglich. Die digitale Verlockung, jederzeit und überall für jeden auf Empfang sein zu können verspricht ein Lifestyle vom Lenkrad aus, das viele fasziniert. Der Markt ist da und so hat die Industrie längst reagiert und moderne Autos zum Beispiel mit eigenen SIM-Karten ausgestattet. Durch kann das Fahrzeug ständig Daten empfangen und senden. Diese sogenannten „Smart Cars“ mutieren zu einer permanenten Informationsquelle, die als Daten-Sammelspeicher fungiert. Datenschützer warnen bereits vor dem gläsernen Autofahrer und haben selbst Bundesjustizminister Heiko Maas auf den Plan gerufen. Dieser äußerte sich entsprechend: „Vielleicht kann das Auto der Zukunft irgendwann selbständig fahren, aber bei der Datenübermittlung muss auch künftig allein der Fahrer am Steuer sitzen.“

Elektronische Fahrerassistenzsysteme und das Dilemma

Die Industrie sieht das naturgemäß etwas anders. Sie verweist auf den Segen des technischen Fortschritts, Autos könnten gerade mit Hilfe elektronischer Fahrerassistenzsysteme störungsfreier und sicherer werden. Für Werkstätten sei es eine große Hilfe, Fehler und Störungen leichter analysieren, erkennen und beheben zu können. Dass dadurch jedoch auch umfangreiche Nutzerdaten anfallen, die auch anderweitig genutzt werden können, wird gerne verschwiegen. Und der Autofahrer? Der geht landläufig immer noch davon aus, dass Daten lediglich in die Speicherchips der elektronischen Steuergeräte gesendet werden, um dem Kfz-Mechaniker wichtige Informationen zur Fehlerbehebung an die Hand geben zu können. Jedoch sieht die Wirklichkeit anders aus: Durch die fortschreitende Vernetzung von Autos werden Daten per Mobilfunk abgerufen und von Automobilherstellern ausgewertet, wie ein Beitrag von Christof Vieweg in Die Zeit kritisch anmerkt. Solche Auswertungen ermöglichen es, das individuelle Fahrverhalten und individuelle Fahrmuster nachzuvollziehen. Das schafft Anreize zu einer kommerzieller Auswertung und weckt Begehrlichkeiten zum Beispiel bei der Werbeindustrie.

Kritik am Notrufsystem eCall

Ab April 2018 wird das automatische Notrufsystem eCall in allen neuen Pkw-Modellen in der EU Pflicht. Die Idee dahinter ist lobenswert: Nach Einschätzung der Kommission könne mit Hilfe des Systems, das bei einem Unfall automatisch den einheitlichen europäischen 112-Notruf auslöst, die Zahl der Unfalltoten um rund zehn Prozent reduziert werden. Auch ohne Betätigung der künftig in jedem Pkw standardmäßig eingebauten SOS-Taste können Helfer schneller den Unfallort erreichen und zügiger Erste-Hilfe-Maßnahmen einleiten. Zwar hat es sich das EU-Parlament in langen Debatten über eine EU-weite Einführung nicht leicht gemacht. Zwar wurde versucht, die Bedenken von Datenschützern in ihre Überlegungen mit einfließen zu lassen, nach denen auch fahrerbezogene Daten wie Fahrweise, Fahrverhalten und Aggressionspotential gegen den Fahrzeuglenker verwendet werden könnten. Zwar sieht die Gesetzesverordnung lediglich eine fahrtechnische Auswertung von Daten über Unfallort, Unfallzeitpunkt, Fahrtrichtung, Treibstoffart und Insassen-Anzahl vor. Aber: Kritische Stimmen wie die von Stephan Bähnisch in AutoBild konstatieren mit der Einführung des Systems auch eine Einführung eines Datenfasses ohne Boden. Zu Recht habe das System von österreichischen Datenschützern den Big Brother Award verliehen bekommen, da es durch die Weitergabe aktueller Standortort-Daten per Mobilfunk Tür und Tor für die Erstellung von Bewegungsprofilen öffne. Die Datenschützer sehen gar das Grundrecht auf Anonymität in seinen Grundpfeilern erschüttert.

Amazon, Google & Co als stumme Fahrgäste

Nach Einschätzung von ADAC-Experten wie Arnulf Volkmar Thiemel bergen gerade jene Daten ein Missbrauchspotential, die Aufschlüsse über Fahrweise und Autonutzung geben. Zukünftig könnten damit beispielsweise Garantieanträge abgelehnt, Versicherungsprämien erhöht oder Leasingverträge widerrufen werden. Navigationssysteme mit Werbe-Einblendungen? – keine futuristische Utopie mehr, sondern vielleicht schon bald Wirklichkeit. Auch Jörg Klingbeil, der Datenschutzbeauftragte von Baden-Württemberg, prophezeit: Schon bald wird der Autofahrer seine privaten Vorlieben – ob gewollt oder ungewollt - an Online-Anbieter preisgeben, die ihre Werbeversprechen und -angebote in die Fahrgastzelle von morgen funken.

Navigationssystem
Wird es bald Werbeeinblendungen auf dem Navigationssystem geben? Foto: industrieblick

Interessenvernetzung von Automobilindustrie und Versicherungswirtschaft

Schon heute gibt es Versicherer, die Notrufgeräte anbieten, die bei Unfällen automatisch Alarm schlagen. Telematik-Geräte werten die Fahrweise und Fahreigenschaften aus, und stufen ihre Kunden entsprechend tariflich ein. Durch die an die Versicherer übermittelten Datenmengen aus dem rollenden Computer werden zu einem Bewegungsdossier zusammengefügt und daraus ein Bewegungsprofil erstellt. Dieses wiederum bietet der Gesellschaft verlässliche Daten zur Einschätzung von Risikobereitschaft und künftiger Unfallwahrscheinlichkeit ihres Mandanten. In den letzten Jahren sind einige EU-Versicherer verstärkt dazu übergegangen, spezielle Versicherungstarife im Verbund mit Fahrüberwachungssystemen anzubieten, die unter dem neudeutschen Slogan „Pay as you drive“ („Zahle wie du fährst“) Datenschützern die Nackenhaare sträuben lassen. Was in Spanien bereits seit 2013 gängige Praxis ist, gibt's nun auch in Deutschland.

Pay as you drive – oder: Wie die Datenfalle zuschnappt

Hinter dem Werbeslogan steht ein neues Kfz-Versicherungsmodell, das eine an den Fahrer angepasste Versicherung zur Grundlage hat. Gefahrene Kilometer oder auch die Einhaltung von Geschwindigkeitsbegrenzungen werden dabei erfasst und als Merkmal der Risikobewertung in die Versicherung einbezogen. Das ins Fahrzeug eingebaute Blackbox-System liefert Daten zum Fahrverhalten wie Übertretung der Geschwindigkeit, Bremsreaktionen oder Nachtfahrten. Die Informationen werden gesammelt und vom Mobilfunkbetreiber nach einem bestimmten Schema in ein Punktesystem umgewandelt. Den Gesamtpunktestand erhält dann die Versicherung. Diese schneidert dann einen flexiblen Versicherungstarif, der sich am Verhalten des Fahrers orientiert. Mit Hilfe einer Smartphone-App kann der sich dieser dann jederzeit über die Auswertung seines Fahrverhaltens informieren lassen. Schonende, vorausschauende und moderate Fahrweise wird belohnt und kann sich in Preisvorteilen von bis zu 40 Prozent niederschlagen.

Soweit zur vielversprechenden Theorie, die Praxis lässt jedoch nichts Gutes ahnen. Denn selbst der ehemalige Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar sieht in dem System nichts anderes als eine „freiwillige Vorratsdatenspeicherung des Kfz-Halters“, wie dem Online-Dienst des Bayerischen Rundfunks zu entnehmen ist. Der Autor Roland Münzel zitiert in seinem kritischen Bericht Schaar weiter, der mit Zunahme der Datenmenge auch eine Zunahme des Missbrauchsrisikos prophezeit und Nachbesserungen des Gesetzgebers anmahnt: „Zwar hat der Versicherungsnehmer die Möglichkeit, eine Tarifstruktur abzulehnen, die sein Fahrverhalten überwacht. Allerdings könnte die Prämiengestaltung der Versicherer zu einem 'ökonomischen Zwang' zum Einbau von derartigen Lösungen führen. Hier sollte der Gesetzgeber einen Riegel vorschieben.“

Günstigere Tarife zu Lasten der Privatsphäre

Telematik-Versicherungen sind zwar bislang freiwillig, sodass Kunden weiterhin im klassischen Kfz-Tarif bleiben können. Jedoch herrscht in diesem Bereich ein hoher Konkurrenzdruck zwischen den Anbietern. Je mehr Verbraucher sich bei umsichtiger Fahrweise durch günstigere Tarife und durch das verlockende Belohnungssystem ködern lassen und damit ihre Privatsphäre bereitwillig auf dem Altar der Industrie opfern, umso mehr geraten diejenigen Autofahrer unter Druck, die sich nicht in ihre Karten schauen lassen möchten. Denn wenn sich die Telematik-Technologie durch kurzfristiges Schielen auf das schnelle Geld flächendeckend durchsetzt, könnten diejenigen, die sich dem Überwachungssystem verweigern, mit einem unfairen Preissystem teurerer Tarife bestraft werden.

Außerdem werden Fahrzeughalter, die bereits in einer niedrigen Schadenfreiheitsklasse sind, voraussichtlich nicht von Telematik-Tarifen profitieren. Der neue Tarif könnte vermutlich sogar teurer ausfallen. Außerdem werden Fahrer mit risikoreicher Fahrweise hinsichtlich des Punktesystems benachteiligt.